Beim vorigen Kirchenkreistag haben wir Seelsorgefelder vorgestellt bekommen, bei denen es sich in jedem Fall um eine kirchliche Arbeit in mehr oder weniger heftigen Krisenfällen handelte. Telefonseelsorge, Krankenhausseelsorge und Notfallseelsorge.
Alles klassische Felder der Seelsorge am leidenden, bedrückten oder angsterfüllten Nächsten.
Bei dem nun, was ich ‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ nenne, geht es um eine Haltung der Kirche der Gesamtgesellschaft gegenüber. Es geht nicht in erster Linie um ‚Seelsorge‘ am Individuum, sondern um Seelsorge am und im System einer Gesellschaft.
Um es klar zu sagen: am Telefon in der Telefonseelsorge hat die seelsorgende Person einen konkreten Ansprechpartner, in der Notfallseelsorge am Straßengraben, auf Eisenbahnschienen, auf dem Standstreifen der Autobahn oder in den Häusern und Wohnungen hat Seelsorge ein konkretes momentanes Gegenüber und im Krankenhaus an den Betten, in den Dienstzimmern oder auf den Gängen gibt es auch jeweils ein personenbezogenes Gegenüber, auf deren Sorgen, Nöte, Anfragen oder Existenzängste reagiert werden muss.
‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ stellt sich der Aufgabe eines jeden Christenmenschen an jedem konkreten gesellschaftlichen Ort die Zugewandtheit Christi zu den Menschen zuzulassen und zwar ohne dass diese Menschen konkret als Seelsorgegruppe anzusprechen wären.
Ich bin an einer Tankstelle. Die junge Frau hinter Kasse spricht mich auf meinen priesterlichen Kragen an. ‚Sind Sie Pastor?‘ Ich sage: ‚Ja, das bin ich.‘ Sie sagt: ‚Können Sie bitte für meinen Bruder beten, der in Afghanistan als Soldat seinen Dienst tut. Dass er gut wieder nach Hause kommt!‘ Ich sage: Das können Sie doch auch.‘ Sie sagt: ‚Nee. Beten ist nicht meins!‘ Ich bitte sie, mir den Namen ihres Bruders aufzuschreiben, steht dann hinten auf dem Kassenbon und seitdem bete ich um die sichere Rückkehr von Gregory. Das Mädchen hinter der Kasse ruft mir nach: ‚Toll, dass Sie das machen, Pastor!‘
‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ fragt nicht nach Kirchenzugehörigkeit. Sie hat es mit der Überzeugungsarbeit zu tun, dass christlicher Glaube sich in der Menschenfreundlichkeit Gottes ausdrücken kann. Es geht um einen weit geöffneten Raum, den Raum des gesellschaftlichen Lebens.
Das ist ein wesentlicher Unterschied zu den bisher genannten drei anderen Namen der Seelsorge. Sowohl im Krankenhaus, als auch in der Notfallseelsorge oder der Telefonseelsorge geht es um einen aufs Kleine begrenzten Raum der Verschwiegenheit und des vertraulichen Gesprächs. Und auch in der Gemeindeseelsorge geht es um einen begrenzten Raum. Um die Menschen, die dazugehören.
Klar, gute SeelsorgerInnen fragen nicht nach der Konfession des Nächsten. Gute Seelsorge fragt nicht danach, ob jemand, der ein seelsorgerliches Handeln nötig hat, evangelisch, katholisch oder überhaupt christlich ist. Aber Seelsorge spielt sich im irgendwie ‚christlich besetzten Raum‘ ab.
In der ‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ geht es um den ‚öffentlichen Auftritt‘ einer Kirche, die einer ganzen Gesellschaft gegenüber erklärt, worin sie Trost finden und dann auch zusprechen kann, die sich in der seelsorgerlichen Aufgabe sieht, gesamtgesellschaftlich durch das Wort Christi ‚Zukunft und Hoffnung‘ in eine immer angstbeladenere Zeit zu sagen. Seelsorge an der dritten Konfession hat es zunächst nicht mit einzelnen Menschen zu tun, sondern mit Positionen, die in der Gesellschaft vertreten werden.
Es geht nicht darum, dass Kirche auch den Nichtchristen, den Atheisten, den Humanisten, den Religionsverächtern Dialog anbietet- das ist doch in heutiger pluraler Gesellschaft eher selbstverständlich – sondern es geht darum, dass Kirche ihre Mauern niedrig macht, ihre Mauern transparent erscheinen lässt und sich – gefragt oder ungefragt – um die Menschen in der Welt und um ihre Seelen sorgt.
In der vergangenen Zeit meldet sich die Kirche – evangelisch wie katholisch – immer wieder zu Wort, wenn es um die Sprach geht, die in Politik und Gesellschaft zu verrohen droht. Der Ruf zur Aufmerksamkeit, nicht zu vergessen, dass von Menschen in Not geredet wird, wenn z.B. von ‚Asyltourismus‘ gesprochen wird – Menschen in überfüllten unsicheren Gummibooten auf dem Mittelmeer suchen Asyl, aber sie sind nicht doch keine Touristen – ist keine politische Äußerung der Kirche, sondern eine seelsorgerliche Äußerung: Lasst euch nicht zur Menschenverachtung überreden.
‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ haben die Kirchen auf sehr eindrückliche Weise gezeigt, als sie sich zu den Fürsprechern einer Willkommenskultur für Flüchtlinge gemacht haben.
‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ ist damals auf dem Staatsgebiet der ehemaligen DDR geschehen, als die Kirchen ihre Tore für die Bürgerbewegungen geöffnet haben, ohne nach Kirchenmitgliedschaften zu fragen.
Dabei zeigen diese Beispiele, dass ‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ nicht zum ‚Wachstumshormon‘ der Kirchen geeignet ist.
Viele, die von der ‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ erreicht werden (so zeigen es z.B. die ‚Runden Tische‘ der Bürgerbewegung oder der Flüchtlingskrise) behalten ihre Skepsis der Institution Kirche und ihren gottesdienstlichen Angeboten gegenüber. Kirche besteht eben immer aus den ‚handelnden Personen‘ bzw. aus den Menschen, die ihr Gesicht geben.
Die dritte Konfession sind die Menschen, die gesellschaftlich in unserem Land mitspielen, ohne Interesse an der Kirche als einen Raum zu haben, in dem sie sich selbst bergen wollen. In diesem Sinne sind auch die uninteressierten Kirchenmitglieder, die also, die am kirchlichen Leben eher geringes oder gar kein Interesse haben, obwohl sie noch in den Steuerlisten stehen, Bestandteil der dritten Konfession. Wir müssen sie wahrnehmen und nicht verachten. Wir müssen aufhören, sie U-Boot- Christen zu nennen Unsere Seelsorge gilt ihnen da, wo sie sich mal stolz zeigen können, wenigstens beim Kirchensteuerzahlen noch zu uns zu gehören.
‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ setzt den Mut voraus, klar christlich bzw. kirchlich zu reden und zu handeln. Dieses Handeln bedeutet auch in säkularen Zusammenhängen laut zu sagen: ‚Ich bete …
für meinen Ort!
für die Welt!
für Verächter der Menschenwürde!
u.s.w. und so fort.
Es ist Seelsorge an der dritten Konfession – an der uns umgebenden Gesellschaft – wenn wir darauf Hinweisen, wo die Ziele christlichen Lebens verfehlt werden. Wachsamkeit in Umweltpolitik, in Fragen der Weltgerechtigkeit und beim Suchen danach, wie die Elenden im Lande besser gestellt werden können sind Seelsorgebestandteile der ‚Seelsorge an der dritten Konfession‘.
Weil das bedeutet, klare christliche Verantwortungen zu benennen wird auch diese Seelsorge nicht immer im konfliktfreien Raum geschehen.
Es ist ja ein Irrtum, dass die klassische Seelsorge konfliktfrei wäre. Ich wurde neulich als Seelsorger von jemandem besucht, der seine Familie verlassen hat, um sich mit einer anderen Frau zusammenzutun, und dem nun alle Welt seines alten Lebens Vorwürfe macht. Seelsorge kann hier ja nicht bedeuten, diesem Mann richtiges Handeln zu bescheinigen oder zu bestätigen, damit er wieder Ruhe findet, sondern sie bedetet, zuzuhören und wertfrei zu sagen, dass hier ein zu überdenkendes Handeln vorliegt.
Die Seelsorge an der dritten Konfession wird nicht unbedingt vom anderen gesucht, sondern sie nimmt sich das Recht, sich um die ‚Seele der Gesellschaft‘ zu sorgen d.h. um das, was eine Gesellschaft im Inneren trägt und prägt. Und weil sie sich dieses Recht nimmt, sich um die Seele der Gesellschaft zu sorgen, wird es immer wieder gesellschaftliche Gruppen geben, die ihr dieses Recht absprechen.
Seelsorge an der Gesellschaft kann es sein, die Mahnung auszusprechen, dass es mit der Tierhaltung, so wie sie derzeit geschieht, um billiges Fleisch zu produzieren, nicht mehr weitergehen kann und dass deswegen weniger Fleisch gegessen werden müsste.
Seelsorge an der Gesellschaft kann die Aktion sein, die wir im Kirchenkreis Bramsche und Osnabrück anschieben, noch öfter als bisher das Fahrrad zu benutzen, um CO2 zu sparen.
Es lässt sich nicht allein ahnen, sondern auch erleben, dass diese Seelsorge an der dritten Konfession, weil sie den individuell frommen und kirchlichen Rahmen verlässt, immer wieder bei dem Verdacht der ‚politischen‘ Äußerungen der Kirche auf Konfliktszenarien trifft.
Die Problematik der kirchlichen Seelsorge generell aber auch an der Gesellschaft hat es dabei auch damit zu tun, dass wir theologisch Mensch und Werk voneinander trennen können. Wenn die Kirche sagt: ‚Die Angst vor fremden Menschen aus aller Welt, die zu einem neuen Nationalismus und zu Abschottung führt, ist schlecht‘, dann meint sie nicht ‚der Mensch, der diese Angst hat ist schlecht, sondern seine Haltung‘. Seelsorge an der dritten Konfession öffnet Kontaktflächen für die Nächstenliebe.
Am Montag stand in der Zeitung, dass Papst Franziskus den Mitgliedern der Mafia pauschal das Christsein abgesprochen hat. Der Mafia angehören und gläubig sein? Aus Sicht von Papst Franziskus ist das unmöglich. «Man kann nicht an Gott glauben und der Mafia angehören», sagte das katholische Kirchenoberhaupt bei einem Besuch im sizilianischen Palermo. «Wer zur Mafia gehört, lebt nicht als Christ, weil er mit seinem Leben den Namen der Liebe Gottes lästert», so der Papst laut Vatikan am Samstag vor mehr als 100.000 Menschen. Im Leben müsse es um Liebe statt um Hass gehen und um Vergebung statt um Rache.
‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ setzt das Vertrauen voraus, dass sie aus dem Reichtum der Gnade Gottes angeboten wird, und diese Sorge für die Seele der Gesellschaft nicht bedeutet, dass sie der Seele der Kirchenmitglieder entzogen wird. Also: Einzelseelsorge ist weiterhin einer der Bausteine von Kirche vor Ort, aber Seelsorge am System gehört auch dazu.
Aus meiner Sicht geht es bei dieser Form der ‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ um die Bereitschaft, sich als Kirche, die schon länger keinen Anspruch mehr auf Meinungsführerschaft in dieser Gesellschaft einfordern kann, mit Christi Namen und in Christi Namen einzumischen. Einzumischen mit den Seelsorgepflastern von Gnade, Barmherzigkeit und Ermutigung zum Guten.
Zum Guten für die Seelenverwirrten, die sich die Zeit des Nationalsozialismus wieder wünschen, zum Guten für die Seelenverwirrten, die das Recht auf Demonstration wie z.B. beim G 7 Gipfel in Hamburg nur für Gewaltausübung nutzen wollen.
Wenn ich nach einer biblischen Begründung für die Seelsorge an der der dritten Konfession suche, dann fällt mir 1.Petrus 3, 15 ein: ‚Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist‘
Jedermann bedeutet hier jeder Mensch und das sind weit mehr als die evangelischen Christinnen und Christen in unseren Gemeindebezirken. Jedermann bedeutet die Gesellschaft und das System, in dem wir leben.
Wir haben als Christen etwas zu bieten, das unserer Gesellschaft gut tut.
Wir sind nicht allein die Gruppe jener, die sich sonntags morgens auf den Weg in die Kirchen macht, um zu singen: ‚Befiehl dem Herrn deine Wege …‘ oder ‚Verleih uns Frieden gnädiglich‘, sondern wir sind Täter des Wortes und in der Nachfolge Jesu ‚suchen wir der Stadt Bestes‘.
Wir suchen danach, die Seele der Gesellschaft nicht zu vernachlässigen, sondern für sie zu sorgen.
Möglicherweise ist die ‚Seelsorge an der dritten Konfession‘ dann auch eine zeitgemäße und glaubwürdige Interpretation des Missionsauftrages: ‚Gehet hin in alle Welten …‘
Fünf Thesen zum Schluss:
1. Wir Christenmenschen leben nicht allein sonntags unseren Glauben auf den Kirchenbänken, sondern wir leben das ‚christlich‘ auch durch die Woche an den Orten unseres Alltages
2. Die christliche Überzeugung, dass die Liebe Gottes sind in der Welt und unter den Menschen finden lassen will ist kein Sondergut der Kanzeln, sondern Allgemeingut christlicher Weltverantwortung.
3. Wir Christenmenschen sehen mit Stolz auf das, was christliche Nächstenliebe in dieser Gesellschaft erreicht. Wir werden aber nicht hochmütig, sondern erkennen im Erreichten den guten Willen Gottes.
4. Es gibt keinen christlichen Nationalismus. Es gibt keinen allumfassenden Anspruch auf die Wahrheit, aber es gibt den Glauben, dass Christus unserer Seele gut tut und davon erzählen wir in der Sorge um die Seele einer geschundenen Welt.
5. Zur Seelsorge der Kirchen gehört der gesellschaftspolitische Hinweis, dass das Eintreten von machtpolitischen Organisationen für ‚christliche Werte‘ nicht automatisch ein Eintreten für den Glauben der Christenheit ist.
Gedanken von Superintendent Hans Hentschel